Wer von uns muss nicht immer wieder von den
Ritualen und Bräuchen seiner Kindheitsfamilie sprechen?
Ein Abend über einen der Grundsockel unserer
Kultur: über die symbolhaften Handlungen, die als Stützwerk
unser Leben strukturieren, und es so vor dem Nichts retten.
Ein Abend über die Geborgenheiten des Lebens in der Gemeinschaft.
- Penibel wird benannt, untersucht, gewertet, was von Geburt
bis Verschwinden eines Menschen an gesellschaftlichen Handlungen
wesentlich wäre.
Fasziniert und ironisch, begeistert und distanziert breitet
eine ziemlich energische Dame enzyklopädisch ihr diesbezügliches
Wissen aus. - Abrupte Stellungswechsel, geheime Widerrufe, verborgene
Obszönitäten. - In gewaltigen Sprachbildern umrahmt
sie es mit philosophischen Kommentaren, mit Anrufungen der Vernunft.
Eine weniger kompetent wirkende Frau stachelt sie mit ihren
Vermutungen und Kommentaren zu immer neuen Redeschwällen
an. Die Begegnung dieser beiden intelligenten, äußerlich
sich spröde gebenden Frauen ist in sich wiederum ein meisterliches
Geflecht aus Sturheit, Witz und Sprachfertigkeit. Die angestrebte
Allgemeingültigkeit dieser Lebens-Gebrauchsanweisung führt
zu gewagten Schlussfolgerungen.
Der Text erinnert in seiner insistierenden Art,
aber auch in seiner Sprachkunst, an Thomas Bernhard: Kreisbewegungen,
Zerlegungen in kleinstmögliche Facetten, mathematische
Reihen, um alle Zufälle des Schicksals auflisten zu können.
Dann jedoch wieder Relativierungen und launenhafte Großzügigkeiten.
Kann man Gedachtes mitteilen, wenn das Erinnerte
mit den aussprechbaren Wörtern nicht übereinstimmen
will?
Der Autor
Geboren 1957 in der Region Haute-Saône. Eltern sind Bauern
und Arbeiter. Nach der Matura beginnt er an der Universität
von Besançon mit dem Studium der Philosophie. Parallel
zu seinem Universitätsstudium ist er Schauspielschüler
am Conservatoire National de Région. Mit Kollegen des
Konservatoriums gründet er die Theaterkompanie "Théâtre
de la Roulotte", benannt nach der ersten Truppe von Jean
Vilar. Er zeichnet seine ersten Inszenierungen und beginnt zu
schreiben.
1980 Abschluss des Philosophiestudiums. Titel seiner Magisterarbeit:
"Theater und Macht in der westlichen Welt".
Schwer krank begleitete Jean-Luc Lagarce noch 1995 seine Produktionen
auf Tournee. Am Vorabend seines Todes probt er LULU.
Er starb mit 38 Jahren an Aids.
In den vergangenen Jahren ist ein wahrer Boom
um seine Stücke entstanden. Allein in den letzten drei
Jahren wurden in Frankreich von verschiedenen Regisseuren rund
zehn seiner Texte inszeniert.
Autobiographie
(Der folgende Text wurde von Jean-Luc Lagarce für die Verfilmung
Portrait, einen Film des CICV (Centre International
de Création Vidéo) angefertigt. Die Arbeit an
dem Text wurde beendet als Jean-Luc Lagarce seine Reise antrat.
Uns ist egal, daß der Text unfertig ist.)
Ich bin am 14. Februar 1957 in Haute-Saône
geboren. Meine Eltern lebten am Fluß, in dem Dorf wo mein
Vater geboren war und immer gelebt hatte. Angeblich, sind wir
sieben Mal in zwölf Jahren umgezogen, aber ich kann mich
nicht erinnern. Wir wohnten in Seloncourt an der einen Seite
eines Hofes, daran erinnere ich mich, danach überquerten
wir den Hof und lebten im Gebäude gegenüber. Als meine
Schwester geboren wurde zogen wir in ein Haus in Valentigney,
das meiner Großmutter mütterlicherseits gehörte.
Dort sind wir niemals wieder ausgezogen.
Meine Großeltern mütterlicher- und
väterlicherseits lebten auf dem Land, sie bestellten Gärten,
züchteten verschiedene Tierarten und arbeiteten in Fabriken.
Ich bin nicht sicher ob mein Großvater väterlicherseits
in einer Fabrik arbeitete. Er war Lieferant, Soldat und Friseur.
Mein Vater bewahrte seine Haarschneidemaschine und schnitt mir
und meinem Bruder die Haare. Ab den Beatles, an manchen Sonntagen,
musste ich öfters meine neueste Glatze hinnehmen. Als mein
Großvater väterlicherseits starb, war er einen Meter
und 97 Zentimeter groß, wog 106 Kilo und wollte zum dritten
Mal heiraten. Das hat man immer wieder erzählt.
Mein Vater verlor seine Mutter sehr jung. Er
hatte zwei sehr viel ältere Brüder. Sein zweiter Bruder
starb als ich noch gar nicht geboren war, auch die Frau seines
anderen Bruders starb jung. Sie hatten Zwillinge die einander
überhaupt nicht ähnelten. Mein Vater hatte ebenfalls
Drillinge als Cousins, einen Jungen und zwei Mädchen. Eines
der Mädchen, möglich, dass ich etwas verwechsle, eines
der Mädchen brachte wiederum Zwillinge zur Welt. Der Junge
unter den Dreien, der Cousin meines Vaters, gefiel mir sehr,
sehr gut! er war ein unvergleichlicher Mann- hatte einen kleinen
Sohn der mit fünf Jahren starb. Meine Mutter war der Meinung,
dass die Eltern den Tod des Kindes nie überwunden hätten.
Mein Vater arbeitete in einer Fabrik, zuerst
als Fabrikarbeiter, dann als Angestellter. Ich war bereits älter
als er angestellt wurde. Meine Mutter ging nicht zur Arbeit,
als ich ein Kind war. Später war sie Schichtarbeiterin.
Bei der Geburt meiner Schwester war sie bereits Fabrikarbeiterin.
Als wir sehr klein waren, meine Schwester war noch nicht geboren,
sagte meine Mutter, dass wir sehr arm wären, dass sie mitunter
Löcher in den Schuhen hätte, aber ich erinnere mich
nicht an so etwas. Ich erinnere mich nicht an die Armut, ich
erinnere mich nur daran, dass, wir nur nicht in
die Ferien fahren konnten. Dass wir zu damals arm waren, daran
kann ich mich nicht erinnern.
An vielen Sonntagen besuchten wir unsere Großeltern
und nahmen Gemüse mit nach Hause. Mein Vater zog Hasen
groß und wir aßen sie.
Ich bin der Älteste, ich habe einen Bruder
und eine Schwester. Mein Bruder ist ein Jahr und meine Schwester
acht Jahre jünger als ich. Mein Bruder hatte einen Mopedunfall,
in den auch eine Frau involviert war. Meine Volksschullehrerin
behauptete, ich sei schuld, wenn mein Bruder stirbt. Meine Mutter
verneinte und sagte, dass man solche Dinge nicht zu einem Kind
sagt. Ich kann mich genau daran erinnern. Dann, bis fünfzehn
hatte er oft starke Asthmaanfälle, und er schaffte die
Schule nicht. Ich hatte das Glück nicht krank zu sein,
darum konnte ich nicht, "kein guter Schüler sein".
Er bekam im Mai 68 Typhus und musste im Krankenhaus bleiben.
Im Mai 68, ich erinnere mich nur noch daran, starb er daran.
Eines Tages vergönnte man nur mir, im Kino Sound
of Music ("Die Trapp-Familie") anzuschauen.
Das ist der erste Film den ich sah, er war mit Julie Andrews.
Dort zeigten sich die Probleme, bezüglich meines Bruders
im Krankenhaus, nicht. Mein Bruder brach sich beide Arme zu
unterschiedlichen Zeitpunkten und er trug einen doppelten Kieferbruch
von einem Mopedunfall davon. Später, er war um die zwanzig,
hatte er mit seinen Freunden einen Autounfall auf der Rückreise
aus Marokko. Er konnte niemals zu mir vordringen. Ich verbrachte
sämtliche kleine Ferien, Ostern und Weihnachten, den Februar
und manchmal einen Teil des Sommers bei meinen Großeltern
mütterlicherseits. Nach dem Tod meines Großvaters
väterlicherseits, ich war älter als zwanzig und hatte
ein Auto, fuhr ich noch einige Male über die Ferien zu
meiner Großmutter.
Als wir Kinder waren, waren meine Mutter und
ihre Schwester sehr gut befreundet. Die Ferien bei meinen Großeltern
verlebten wir, da unsere Cousins im Nachbardorf wohnten, gemeinsam
mit ihnen. Mit der ganzen Familie der Schwester meiner Mutter.
Sie ist meine Tante und auch meine Taufpatin, ihr Mann, mein
Onkel, ist ebenfalls mein Taufpate. Wir machten sonntags sehr
oft Ausflüge. Dann fuhren wir in die Osterglocken, Narzissen
oder Maiglöckchen, wir machten Picknicks und waren mit
drei oder vier Autos unterwegs. Sie sagten immer, ich habe einen
schlechten Charakter, dann weinte ich. Ich weinte wegen allem,
denn ich verstand die Freundlichkeiten nicht, die man mir darbrachte.
Ich fuhr auch dreimal ins Ferienlager, zwei
Mal in die Jura, wo ich ebenfalls schöne Gegenden kennen
lernte, und einmal auf die Ile D-Yeu. Danach, im folgenden
Jahr meldete man mich an der Grundschule an. Ich blieb bis sechzehn
an dieser Schule, ich war anders als die anderen, aber ich habe
alles gut überstanden. Ich fuhr Rad und Kajak, ich zeltete
an einem Fluss, ich war bereits groß, wir sangen Balladen
und solche Sachen.
Das erste Mal, dass ich glaubte in einen Jungen
verliebt zu sein, war während dieses Lagers am Fluss. Der
Junge hatte eine grüne Badehose und ich liebte seine Knie
darunter. Er war gemein, sehr sportlich und außerdem war
er in der Truppe Villefranche sur Saône Mitglied. Wir
haben nie miteinander gesprochen, er hat mich niemals auch nur
wahrgenommen. Mein bester Freund in der Grundschule hieß
Fréderic. Und Fréderics bester Freund im Religionsunterricht
hieß Dominique. Dominique und ich wurden später die
besten Freunde der Welt, als wir uns in der gleichen Klasse
der Gesamtschule, wiedertrafen.
Nach Dominique hieß der beste Freund meines
Lebens, außerhalb der Grundschule und des Religionsunterrichts,
Louis. Wir waren in der gleichen Pfarre, unser Leben war jedoch
sehr ausschweifend und wir trennten uns bald. Später war
er an einer anderen Schule und wir sahen uns nicht oft. Einmal
trafen wir uns in der Nacht auf einem Parkplatz, in der Nähe
des Flusses in Belfort wieder. Ich war vielleicht 25. Wir entschieden
am folgenden Samstag, nach Deutschland, in eine Disco, auf Aufriss
zu fahren. Es war ein sehr melancholischer und sehr, sehr schöner
Abend. Wir haben überhaupt nichts aufgerissen und sprachen
nur über die Leben die wir führten. Später, wurde
er verrückt. Es war meine Mutter, die ihn als eine Belastung
für seine Eltern bezeichnete. Ich sah ihn wieder, es war
an einem Sonntag Nachmittag, auf einer Forststrasse, ich war
bereits krank und er verrückt, es war schön.
Mit meinem besten Freund Fréderic, aus
der Grundschule, lachte ich viel, wir stahlen Essen; nur ein
Mal. Einmal haben wir uns verirrt und wir haben geweint. Es
war in der Nähe einer Marienstatue, er wollte beten und
wir stritten uns, weil Protestanten vor einer Marienstatue nicht
beten, wir schrieen uns sogar während des Gebets an, aber
wir hörten auf zu weinen. Er zog fort um im Elsass zu leben
und ich wurde ein Freund seines Bruders, aber er war zu kompliziert.
Dann noch Dominique, mein bester Freund von
der Gesamtschule bis zum Gymnasium. Dominique und ich saßen
bis zur Maturaklasse nebeneinander, wir waren sehr unterschiedlich,
was der Grund war, warum wir so gut miteinander auskamen. Bis
zur Matura, die er verhaute. Ich ging an die Universität
von Besancon und er blieb noch ein Jahr in Valentigney. Im folgenden
Jahr trafen wir uns an der Universität wieder, er hatte
Geschichte und ich Philosophie belegt, außerdem war ich
Student der dramatischen Kunst am Konservatorium der Region.
TEXTPROBE
...........
Man gibt dem Erstgeborenen gewöhnlich seinen
Großvater väterlicherseits als Paten, als Patin seine
Großmutter mütterlicherseits.
(Schweigen)
CHRISTINE: Das zweite Kind bekommt dann als
Paten seinen Großvater mütterlicherseits und als
Patin seine Großmutter väterlicherseits?
DORA: Und dann so weiter, jeweils beide Familien
nach Alter und abwechselnd in den Geschlechtern, sofern es möglich
ist.
CHRISTINE: Das ist nicht kompliziert.
DORA: Doch wenn man es genauer bedenkt, ein
beklagenswerter Brauch.
Ich muss es so nennen und erkläre auch warum.
Pate und Patin sind und waren schon immer: Ersatz-Vater und
Mutter. Nichts anderes. Und wenn sie schon alt sind, wie es
bei Großeltern zu befürchten und vorhersehbar ist,
könnte das Kind sie schon sehr bald verlieren, und mit
ihnen zugleich den Halt, den man ihm hatte geben wollen.
Es ist darum klug, es wird klug sein, Konstrukt meiner Überlegung,
einen Paten und eine Patin zu wählen, die dem Kind auch
in späterer Zeit nützen können.
CHRISTINE: Um, wie der Dichter Victor Hugo schon
sagte, "die Weitergabe des Lebens zu garantieren".
(langer Blick Dora)
............
(noch ein langer Blick Dora)
DORA: Also jüngere Paten, voller Lebenskraft
und Hoffnung vorschlagen, dadurch die Geschenke verdoppeln,
die ja natürlich auch von den übergangenen Großeltern
kommen werden. Und unangenehme Trauer vermeiden.
So macht man das.
Man kann auch,
das wäre keine schlechte Idee, ein wirklich guter Schachzug:
Man kann auch den Wunsch verspüren, man kann sich wünschen,
vielleicht will man seinen Kindern einen Halt außerhalb
der Familie, in der ja Hilfe und Obhut ihnen schon von Natur
aus gewährt werden, sichern.
Einen anderen Halt also, von außen, eine andere Wahl treffen,
für Pate und Patin des Kindes, eine nützlichere und
verlässlichere. D a r ü b e r soll man nachdenken!!
CHRISTINE: In diesem Fall, bei solcher Entscheidung,
muss man -
DORA: müsste man.
CHRISTINE: Wird man die Neigung der befreundeten
Personen oder der Gönner und Ratgeber vorfühlen müssen,
-
DORA: derjenigen, die dem Kind nützlich
sein könnten.
Viele Menschen haben eine Abneigung, ja, Abneigung und nichts
anderes. Viele haben eine Abneigung gegen die Erfüllung
von materiellen und ethischen Pflichten, die dem Paten und der
Patin auferlegt sind, und man wird herausfinden müssen,
man wird die Haltung zu diesem Thema mit viel Diplomatie und
Taktgefühl erkunden. Denn zugegeben, um dieses Kapitel
abzuschließen, es ist eine Art Zwangssteuer, die somit
erhoben wird, ja, Steuer, nichts anderes. Törichtes Papperlapapp
und alberne Heuchelei, etwas Anderes behaupten zu wollen.
Deshalb sollte man sich nicht einer Ablehnung aussetzen, einer
kränkenden, immer unangenehmen,
noch weniger sollte man es riskieren, Personen in Verlegenheit
zu bringen, die zu höflich oder
feinfühlig sind, um die Wahl die auf sie gefallen ist,
abzulehnen, die aber zu träge oder zu arm sind, die Kosten
oder Pflichten die ihnen durch die Patenschaft auferlegt werden,
zu tragen, ohne sich ausgenützt zu fühlen.
CHRISTINE: Manche mit Gütern oder Vermögen
ausgestattete Personen sind kinderlos.
Diese scheinen besonders geeignet zu sein, später die verstorbenen
Eltern zu ersetzen.
An die muss man sich wenden.
DORA: Man merkt also, dass es in dieser Situation
gut ist, zu überlegen, in jeder Situation übrigens,
man merkt, dass es gut ist zu überlegen und diesen Gefallen
nicht leichtfertig zu erbitten.
Angenommen, andererseits, Sie würden ersucht, Pate zu sein,
Pate zu werden, und angenommen, Sie wollten dieses Angebot ablehnen,
und alle Unannehmlichkeiten, die es mit sich bringt, die damit
verbunden sind, ja, Unannehmlichkeiten, nichts anderes,
können Sie, könnten, können Sie zum Beispiel
antworten, das ist ein geschicktes Mittel, könnten Sie
antworten, dass Sie zum Zeitpunkt der Zeremonie gezwungen sind,
gezwungen sein werden, dass Sie gezwungen sind, zu verreisen
und dass sich Ihre Abwesenheit zu Ihrem größten Bedauern
hinziehen wird, zum allergrößtem Bedauern.
"Zur Zeit der Niederkunft Ihrer gnädigen Frau werde
ich für eine recht lange Zeit abwesend sein."
So macht man das.
(Schweigen)
...............