Eine Art Genomforschung unserer Gesellschaft









2002 ERSTAUFFÜHRUNG
Foto groß
DIE REGELN DER LEBENSKUNST IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT
von
Jean-Luc Lagarce

Der Autor

Autobiographie

Textprobe

 

Wer von uns muss nicht immer wieder von den Ritualen und Bräuchen seiner Kindheitsfamilie sprechen?

Ein Abend über einen der Grundsockel unserer Kultur: über die symbolhaften Handlungen, die als Stützwerk unser Leben strukturieren, und es so vor dem Nichts retten. Ein Abend über die Geborgenheiten des Lebens in der Gemeinschaft. - Penibel wird benannt, untersucht, gewertet, was von Geburt bis Verschwinden eines Menschen an gesellschaftlichen Handlungen wesentlich wäre.
Fasziniert und ironisch, begeistert und distanziert breitet eine ziemlich energische Dame enzyklopädisch ihr diesbezügliches Wissen aus. - Abrupte Stellungswechsel, geheime Widerrufe, verborgene Obszönitäten. - In gewaltigen Sprachbildern umrahmt sie es mit philosophischen Kommentaren, mit Anrufungen der Vernunft.
Eine weniger kompetent wirkende Frau stachelt sie mit ihren Vermutungen und Kommentaren zu immer neuen Redeschwällen an. Die Begegnung dieser beiden intelligenten, äußerlich sich spröde gebenden Frauen ist in sich wiederum ein meisterliches Geflecht aus Sturheit, Witz und Sprachfertigkeit. Die angestrebte Allgemeingültigkeit dieser Lebens-Gebrauchsanweisung führt zu gewagten Schlussfolgerungen.

Der Text erinnert in seiner insistierenden Art, aber auch in seiner Sprachkunst, an Thomas Bernhard: Kreisbewegungen, Zerlegungen in kleinstmögliche Facetten, mathematische Reihen, um alle Zufälle des Schicksals auflisten zu können. Dann jedoch wieder Relativierungen und launenhafte Großzügigkeiten.

Kann man Gedachtes mitteilen, wenn das Erinnerte mit den aussprechbaren Wörtern nicht übereinstimmen will?

 


Der Autor
Geboren 1957 in der Region Haute-Saône. Eltern sind Bauern und Arbeiter. Nach der Matura beginnt er an der Universität von Besançon mit dem Studium der Philosophie. Parallel zu seinem Universitätsstudium ist er Schauspielschüler am Conservatoire National de Région. Mit Kollegen des Konservatoriums gründet er die Theaterkompanie "Théâtre de la Roulotte", benannt nach der ersten Truppe von Jean Vilar. Er zeichnet seine ersten Inszenierungen und beginnt zu schreiben.
1980 Abschluss des Philosophiestudiums. Titel seiner Magisterarbeit: "Theater und Macht in der westlichen Welt".
Schwer krank begleitete Jean-Luc Lagarce noch 1995 seine Produktionen auf Tournee. Am Vorabend seines Todes probt er LULU.
Er starb mit 38 Jahren an Aids.

In den vergangenen Jahren ist ein wahrer Boom um seine Stücke entstanden. Allein in den letzten drei Jahren wurden in Frankreich von verschiedenen Regisseuren rund zehn seiner Texte inszeniert.

Autobiographie
(Der folgende Text wurde von Jean-Luc Lagarce für die Verfilmung „Portrait“, einen Film des CICV (Centre International de Création Vidéo) angefertigt. Die Arbeit an dem Text wurde beendet als Jean-Luc Lagarce seine Reise antrat. Uns ist egal, daß der Text unfertig ist.)

Ich bin am 14. Februar 1957 in Haute-Saône geboren. Meine Eltern lebten am Fluß, in dem Dorf wo mein Vater geboren war und immer gelebt hatte. Angeblich, sind wir sieben Mal in zwölf Jahren umgezogen, aber ich kann mich nicht erinnern. Wir wohnten in Seloncourt an der einen Seite eines Hofes, daran erinnere ich mich, danach überquerten wir den Hof und lebten im Gebäude gegenüber. Als meine Schwester geboren wurde zogen wir in ein Haus in Valentigney, das meiner Großmutter mütterlicherseits gehörte. Dort sind wir niemals wieder ausgezogen.

Meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits lebten auf dem Land, sie bestellten Gärten, züchteten verschiedene Tierarten und arbeiteten in Fabriken. Ich bin nicht sicher ob mein Großvater väterlicherseits in einer Fabrik arbeitete. Er war Lieferant, Soldat und Friseur. Mein Vater bewahrte seine Haarschneidemaschine und schnitt mir und meinem Bruder die Haare. Ab den Beatles, an manchen Sonntagen, musste ich öfters meine neueste Glatze hinnehmen. Als mein Großvater väterlicherseits starb, war er einen Meter und 97 Zentimeter groß, wog 106 Kilo und wollte zum dritten Mal heiraten. Das hat man immer wieder erzählt.

Mein Vater verlor seine Mutter sehr jung. Er hatte zwei sehr viel ältere Brüder. Sein zweiter Bruder starb als ich noch gar nicht geboren war, auch die Frau seines anderen Bruders starb jung. Sie hatten Zwillinge die einander überhaupt nicht ähnelten. Mein Vater hatte ebenfalls Drillinge als Cousins, einen Jungen und zwei Mädchen. Eines der Mädchen, möglich, dass ich etwas verwechsle, eines der Mädchen brachte wiederum Zwillinge zur Welt. Der Junge unter den Dreien, der Cousin meines Vaters, gefiel mir sehr, sehr gut! er war ein unvergleichlicher Mann- hatte einen kleinen Sohn der mit fünf Jahren starb. Meine Mutter war der Meinung, dass die Eltern den Tod des Kindes nie überwunden hätten.

Mein Vater arbeitete in einer Fabrik, zuerst als Fabrikarbeiter, dann als Angestellter. Ich war bereits älter als er angestellt wurde. Meine Mutter ging nicht zur Arbeit, als ich ein Kind war. Später war sie Schichtarbeiterin. Bei der Geburt meiner Schwester war sie bereits Fabrikarbeiterin. Als wir sehr klein waren, meine Schwester war noch nicht geboren, sagte meine Mutter, dass wir sehr arm wären, dass sie mitunter Löcher in den Schuhen hätte, aber ich erinnere mich nicht an so etwas. Ich erinnere mich nicht an die Armut, ich erinnere mich nur daran, dass, wir „nur“ nicht in die Ferien fahren konnten. Dass wir zu damals arm waren, daran kann ich mich nicht erinnern.

An vielen Sonntagen besuchten wir unsere Großeltern und nahmen Gemüse mit nach Hause. Mein Vater zog Hasen groß und wir aßen sie.

Ich bin der Älteste, ich habe einen Bruder und eine Schwester. Mein Bruder ist ein Jahr und meine Schwester acht Jahre jünger als ich. Mein Bruder hatte einen Mopedunfall, in den auch eine Frau involviert war. Meine Volksschullehrerin behauptete, ich sei schuld, wenn mein Bruder stirbt. Meine Mutter verneinte und sagte, dass man solche Dinge nicht zu einem Kind sagt. Ich kann mich genau daran erinnern. Dann, bis fünfzehn hatte er oft starke Asthmaanfälle, und er schaffte die Schule nicht. Ich hatte das Glück nicht krank zu sein, darum konnte ich nicht, "kein guter Schüler sein". Er bekam im Mai 68 Typhus und musste im Krankenhaus bleiben. Im Mai 68, ich erinnere mich nur noch daran, starb er daran. Eines Tages vergönnte man nur mir, im Kino „Sound of Music“ ("Die Trapp-Familie") anzuschauen. Das ist der erste Film den ich sah, er war mit Julie Andrews. Dort zeigten sich die Probleme, bezüglich meines Bruders im Krankenhaus, nicht. Mein Bruder brach sich beide Arme zu unterschiedlichen Zeitpunkten und er trug einen doppelten Kieferbruch von einem Mopedunfall davon. Später, er war um die zwanzig, hatte er mit seinen Freunden einen Autounfall auf der Rückreise aus Marokko. Er konnte niemals zu mir vordringen. Ich verbrachte sämtliche kleine Ferien, Ostern und Weihnachten, den Februar und manchmal einen Teil des Sommers bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Nach dem Tod meines Großvaters väterlicherseits, ich war älter als zwanzig und hatte ein Auto, fuhr ich noch einige Male über die Ferien zu meiner Großmutter.

Als wir Kinder waren, waren meine Mutter und ihre Schwester sehr gut befreundet. Die Ferien bei meinen Großeltern verlebten wir, da unsere Cousins im Nachbardorf wohnten, gemeinsam mit ihnen. Mit der ganzen Familie der Schwester meiner Mutter. Sie ist meine Tante und auch meine Taufpatin, ihr Mann, mein Onkel, ist ebenfalls mein Taufpate. Wir machten sonntags sehr oft Ausflüge. Dann fuhren wir in die Osterglocken, Narzissen oder Maiglöckchen, wir machten Picknicks und waren mit drei oder vier Autos unterwegs. Sie sagten immer, ich habe einen schlechten Charakter, dann weinte ich. Ich weinte wegen allem, denn ich verstand die Freundlichkeiten nicht, die man mir darbrachte.

Ich fuhr auch dreimal ins Ferienlager, zwei Mal in die Jura, wo ich ebenfalls schöne Gegenden kennen lernte, und einmal auf die Ile D’-Yeu. Danach, im folgenden Jahr meldete man mich an der Grundschule an. Ich blieb bis sechzehn an dieser Schule, ich war anders als die anderen, aber ich habe alles gut überstanden. Ich fuhr Rad und Kajak, ich zeltete an einem Fluss, ich war bereits groß, wir sangen Balladen und solche Sachen.

Das erste Mal, dass ich glaubte in einen Jungen verliebt zu sein, war während dieses Lagers am Fluss. Der Junge hatte eine grüne Badehose und ich liebte seine Knie darunter. Er war gemein, sehr sportlich und außerdem war er in der Truppe Villefranche sur Saône Mitglied. Wir haben nie miteinander gesprochen, er hat mich niemals auch nur wahrgenommen. Mein bester Freund in der Grundschule hieß Fréderic. Und Fréderics bester Freund im Religionsunterricht hieß Dominique. Dominique und ich wurden später die besten Freunde der Welt, als wir uns in der gleichen Klasse der Gesamtschule, wiedertrafen.

Nach Dominique hieß der beste Freund meines Lebens, außerhalb der Grundschule und des Religionsunterrichts, Louis. Wir waren in der gleichen Pfarre, unser Leben war jedoch sehr ausschweifend und wir trennten uns bald. Später war er an einer anderen Schule und wir sahen uns nicht oft. Einmal trafen wir uns in der Nacht auf einem Parkplatz, in der Nähe des Flusses in Belfort wieder. Ich war vielleicht 25. Wir entschieden am folgenden Samstag, nach Deutschland, in eine Disco, auf Aufriss zu fahren. Es war ein sehr melancholischer und sehr, sehr schöner Abend. Wir haben überhaupt nichts aufgerissen und sprachen nur über die Leben die wir führten. Später, wurde er verrückt. Es war meine Mutter, die ihn als eine Belastung für seine Eltern bezeichnete. Ich sah ihn wieder, es war an einem Sonntag Nachmittag, auf einer Forststrasse, ich war bereits krank und er verrückt, es war schön.

Mit meinem besten Freund Fréderic, aus der Grundschule, lachte ich viel, wir stahlen Essen; nur ein Mal. Einmal haben wir uns verirrt und wir haben geweint. Es war in der Nähe einer Marienstatue, er wollte beten und wir stritten uns, weil Protestanten vor einer Marienstatue nicht beten, wir schrieen uns sogar während des Gebets an, aber wir hörten auf zu weinen. Er zog fort um im Elsass zu leben und ich wurde ein Freund seines Bruders, aber er war zu kompliziert.

Dann noch Dominique, mein bester Freund von der Gesamtschule bis zum Gymnasium. Dominique und ich saßen bis zur Maturaklasse nebeneinander, wir waren sehr unterschiedlich, was der Grund war, warum wir so gut miteinander auskamen. Bis zur Matura, die er verhaute. Ich ging an die Universität von Besancon und er blieb noch ein Jahr in Valentigney. Im folgenden Jahr trafen wir uns an der Universität wieder, er hatte Geschichte und ich Philosophie belegt, außerdem war ich Student der dramatischen Kunst am Konservatorium der Region.



TEXTPROBE

...........

Man gibt dem Erstgeborenen gewöhnlich seinen Großvater väterlicherseits als Paten, als Patin seine Großmutter mütterlicherseits.
(Schweigen)

CHRISTINE: Das zweite Kind bekommt dann als Paten seinen Großvater mütterlicherseits und als Patin seine Großmutter väterlicherseits?

DORA: Und dann so weiter, jeweils beide Familien nach Alter und abwechselnd in den Geschlechtern, sofern es möglich ist.

CHRISTINE: Das ist nicht kompliziert.

DORA: Doch wenn man es genauer bedenkt, ein beklagenswerter Brauch.
Ich muss es so nennen und erkläre auch warum.
Pate und Patin sind und waren schon immer: Ersatz-Vater und Mutter. Nichts anderes. Und wenn sie schon alt sind, wie es bei Großeltern zu befürchten und vorhersehbar ist, könnte das Kind sie schon sehr bald verlieren, und mit ihnen zugleich den Halt, den man ihm hatte geben wollen.
Es ist darum klug, es wird klug sein, Konstrukt meiner Überlegung, einen Paten und eine Patin zu wählen, die dem Kind auch in späterer Zeit nützen können.

CHRISTINE: Um, wie der Dichter Victor Hugo schon sagte, "die Weitergabe des Lebens zu garantieren".

(langer Blick Dora)
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(noch ein langer Blick Dora)

DORA: Also jüngere Paten, voller Lebenskraft und Hoffnung vorschlagen, dadurch die Geschenke verdoppeln, die ja natürlich auch von den übergangenen Großeltern kommen werden. Und unangenehme Trauer vermeiden.
So macht man das.
Man kann auch,
das wäre keine schlechte Idee, ein wirklich guter Schachzug: Man kann auch den Wunsch verspüren, man kann sich wünschen, vielleicht will man seinen Kindern einen Halt außerhalb der Familie, in der ja Hilfe und Obhut ihnen schon von Natur aus gewährt werden, sichern.
Einen anderen Halt also, von außen, eine andere Wahl treffen, für Pate und Patin des Kindes, eine nützlichere und verlässlichere. D a r ü b e r soll man nachdenken!!

CHRISTINE: In diesem Fall, bei solcher Entscheidung, muss man -

DORA: müsste man.

CHRISTINE: Wird man die Neigung der befreundeten Personen oder der Gönner und Ratgeber vorfühlen müssen, -

DORA: derjenigen, die dem Kind nützlich sein könnten.
Viele Menschen haben eine Abneigung, ja, Abneigung und nichts anderes. Viele haben eine Abneigung gegen die Erfüllung von materiellen und ethischen Pflichten, die dem Paten und der Patin auferlegt sind, und man wird herausfinden müssen, man wird die Haltung zu diesem Thema mit viel Diplomatie und Taktgefühl erkunden. Denn zugegeben, um dieses Kapitel abzuschließen, es ist eine Art Zwangssteuer, die somit erhoben wird, ja, Steuer, nichts anderes. Törichtes Papperlapapp und alberne Heuchelei, etwas Anderes behaupten zu wollen.
Deshalb sollte man sich nicht einer Ablehnung aussetzen, einer kränkenden, immer unangenehmen,
noch weniger sollte man es riskieren, Personen in Verlegenheit zu bringen, die zu höflich oder
feinfühlig sind, um die Wahl die auf sie gefallen ist, abzulehnen, die aber zu träge oder zu arm sind, die Kosten oder Pflichten die ihnen durch die Patenschaft auferlegt werden, zu tragen, ohne sich ausgenützt zu fühlen.

CHRISTINE: Manche mit Gütern oder Vermögen ausgestattete Personen sind kinderlos.
Diese scheinen besonders geeignet zu sein, später die verstorbenen Eltern zu ersetzen.
An die muss man sich wenden.

DORA: Man merkt also, dass es in dieser Situation gut ist, zu überlegen, in jeder Situation übrigens, man merkt, dass es gut ist zu überlegen und diesen Gefallen nicht leichtfertig zu erbitten.
Angenommen, andererseits, Sie würden ersucht, Pate zu sein, Pate zu werden, und angenommen, Sie wollten dieses Angebot ablehnen, und alle Unannehmlichkeiten, die es mit sich bringt, die damit verbunden sind, ja, Unannehmlichkeiten, nichts anderes,
können Sie, könnten, können Sie zum Beispiel antworten, das ist ein geschicktes Mittel, könnten Sie antworten, dass Sie zum Zeitpunkt der Zeremonie gezwungen sind, gezwungen sein werden, dass Sie gezwungen sind, zu verreisen und dass sich Ihre Abwesenheit zu Ihrem größten Bedauern hinziehen wird, zum allergrößtem Bedauern.
"Zur Zeit der Niederkunft Ihrer gnädigen Frau werde ich für eine recht lange Zeit abwesend sein."
So macht man das.

(Schweigen)
...............