Eine Art Genomforschung unserer Gesellschaft









2005 ERSTAUFFÜHRUNG
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LANGSTRECKENFLUGKÖRPER FÜR DEN WELTFRIEDEN
mit Texten von
Thukydides, Plato, UNO-Resolution

Fotos

 

Unter Berücksichtigung der
LANGSTRECKENFLUGKÖRPER FÜR DEN WELTFRIEDEN


UNO-RESOLUTION Nr.1441 / THUKYDIDES / PLATO


Ein Theaterabend über die Affekte, die aus der neuerlichen Militarisierung unserer jetzigen Welt entspringen.

Kammerspiel, Tanz, Video, Sprechchor, schrille Soli, Satyrspiel, dynamisiertes Tableau und vergreiste Konklusion.

Melier-Dialog bearbeitet von Simon Werle - Dank an den Verlag der Autoren für das Entgegenkommen

Premiere dietheater Künstlerhaus Wien; 4. bis 22.Oktober 2005

Vorstellungsfotos sind bei unserem Kooperationspartner www.rosengewitter.at und bei www.fehringer-leikauf.com ansehbar.

 

Dieses Projekt reflektiert über die Mechanik der Macht.
Wie Macht sich installiert, wie sie versucht, sich abzusichern. Wie bei steigendem Machtzuwachs, die Macht in paranoide Zustände gerät, und alles Außenstehende als potentielle Feinde fühlt, und bald, angstgeschüttelt, zu präventiven Maßnamen greift.

Auf diese Reflexionsebene haben wir die Erkenntnisse unserer Recherchearbeit verdichtet.

Wir haben auch bei dieser Arbeit streng vermieden, zu moralisieren. Denn wir sehen eher das Fragen Stellen als Auftrag der heutigen Kunst. Und wir gehen - dies ist ja wohl der Auftrag an Freie Theaterarbeit - in der Suche nach einer adäquaten Form der Umsetzung ein hohes Risiko ein. Wir arbeiten mit mehreren Formen der darstellenden Kunst, um diesen komplexen Themenkreis mit all seinen Fragen vertiefend UND spannend auffächern zu können.

ENTSTEHEN DES PROJEKTS
Vor einiger Zeit - es wurde damals gerade der zweite Irak-Krieg medial vorbereitet - hatten wir uns eine Recherche in altgriechischen Texten verordnet. Wir wollten endlich die Anspielungen und Bezüge in den Komödien des Aristophanes "verstehen".
Dazu hatten wir uns auch in die Berichte des Atheners Thukydides vertieft, niedergeschrieben in der Zeit, als Athen sich gegen den Widerstand peloponnesischer Völker anschickte, die damalige Weltmacht zu werden.
Im Verlaufe dieser Arbeit entdeckten wir eine faszinierende Parallele zwischen den Reden athenischer Politiker und Militärs vor 2400 Jahren, und Äußerungen ihrer US-amerikanischen und britischen Berufskollegen unserer Zeit.

Wobei sich zusätzlich herausstellte, dass diese verdeckt aggressiven Formulierungen heutiger Politiker und Militärs die den Tod zehntausender Menschen vorbereiten, und die, heutiger Konzernleitungen, die durch feindliche oder freundliche Übernahme fremder Großunternehmen die Arbeitslosigkeit tausender Beschäftigter vorbereiten, einander prekär ähneln. Und gemeinsam wiederum - zum Teil fast wörtlich - den Reden gleichen, die aus dieser antiken Krisenzeit auf uns gekommen sind.

Aus diesem Erstaunen heraus, abgesichert durch Arbeiten von Zeithistorikern und Gräzisten, entwickelten wir hierauf ein Theaterprojekt, das Denkprozesse des heutigen, extremen Wertewandels - bedingt durch Neoliberalismus, Globalisierung und die neue Kriegslust des Westens - fremd erlebbar machen will.


Haupsächlich unter Verwendung von Texten aus der Zeit von Sokrates, Plato und eben Thukydides - unter Hinzunahme einiger Sätze aus Ovids Metamorphosen und der UNO-Resolution Nr. 1441.

Daraus formten wir nun soeben einen - hoffentlich - spannenden und auch witzigen, auf jeden Fall aber diskussionsanregenden Theaterabend. Über das Hier und Jetzt, indem scharf und unverwandt das Damals betrachtet wird.

ALLGEMEINES ZUR THEMATIK
Thukydides beschrieb ab 431 v.u.Ztr. penibel den siebenundzwanzig Jahre dauernden Peloponnesischen Krieg. Schwerpunkt der Betrachtung waren nicht Heldentaten oder kulturelle Leistungen, wie sie noch bei Herodot gewürdigt worden waren, sondern die Leiden der "Zivilgesellschaft", und besonders: die allgemeine Verrohung der hellenischen Welt (von Sizilien bis zum Bosporus) durch Gewöhnung an die Gräuel.
Bedeutungsvoll ist uns, wie hier das geschichtliche Geschehen als eine tief innere Mechanik die fast naturgesetzlichen Charakter hat, betrachtet wird - beruhend auf der Natur des Menschen, die durch den Druck der Furcht alle Fesseln der Zivilisierung abgestreift hat. Weil bei Thukydides diese Dinge auf ein Geschehen projiziert werden, das als Menschengeschehen gleichzeitig archaisches Naturgeschehen ist, wird es möglich, dass diese Betrachtungsform zu einer Theorie wird, in der tiefere Grundtendenzen der Realität als das eigentlich Wirksame gesehen werden - und darum auch als das eigentlich Aufzeigenswerte.

Spätestens seit den Schrecken des Bürgerkriegs in Jugoslawien und unseren hilflosen Versuchen, diese wiedererstandene Bestialität inmitten Europas zu deuten, spätestens seit den Reaktionen auf den 11. Sept., allerspätestens seit dem Vorspiel zum Irakkrieg und der nach diesem Krieg in den Medien laufenden Offenlegung der Konzeptlosigkeit, der Skandale und Lügen mitsamt der jüngsten, peinlichen Offenlegung von Rumsfeld, drängen sich erstaunliche Parallelen zu den Jahren 431-404 v.u.Ztr. auf.

Das Ziel dieser Arbeit ist, anhand dieses 2400 Jahre alten Textes ein Deutungsangebot zur aktuellen Tendenz in unserer westlichen Zivilisation vorzulegen. Es ist nicht Anti-Amerikanismus, der diese Arbeit beflügelt. Die Ränke und die Menschenverachtung der antiken Kriegsparteien betrachten wir als Schablone, die auch in Denkmustern anderer heutiger Staaten oder globaler Konzerne zu erkennen ist.
Denkmuster, die die weltweite Wirtschaftskonkurrenz bestimmen, - deren Wirkungsmacht jedoch bis in die Psyche der Kleinfamilie spürbar ist.


GEHALT / ZIELRICHTUNG
Nicht, dass Thukydides, der kurze Zeit selbst (als Mitglied der Oberschicht) als Feldherr für Athen tätig war, in seinem Werk diese Kette der Schmutzigkeiten mit zynischem Gleichmut notieren würde. Er zeigt vielmehr, dass jeder Staat, der eine gewisse Macht errungen hat, Feinde und Neider hat. Die er nur in Schach halten zu können glaubt, indem er seine Macht erweitert. Was wiederum die Zahl seiner Feinde wachsen lässt - und so weiter, bis zum - vermeintlich - unvermeidlichen Kriegsausbruch. Man könnte dies ein Gesetz der "defensiven Expansion" nennen. Oder auch: Imperialismus aus Notwehr, zur vorsorglichen Verteidigung der eigenen Lebensform. Dies erinnert stark an den Kalten Krieg, an die Philosophie der Abschreckung, oder aber an die weltweit mit dem "Feldzug gegen den Terrorismus im Namen der westlichen Lebensform" einsetzende Beschneidung der Bürgerrechte. Eine erstaunliche Parallele.
Auch: wie die Sowjets seinerzeit überall den realen Sozialismus, wie die Amerikaner die marktwirtschaftliche Demokratie oder wenigstens eine kapitalistische Diktatur durchzusetzen trachteten, so wollten die damaligen Konkurrenten stets die eigene Staatsform exportieren; Athen die Demokratie, Sparta die Oligarchie. Die jeweils unterworfenen Städte bekamen sogleich eine politische Umerziehung verpasst. Neutralität wurde nicht geduldet. Denn neutrale Staaten galten als Beweis für die Schwäche der jeweiligen Hegemonialmacht.
Wie sagte George W. Bush voll Zorn gegen die Staaten, die sich weigerten, an seinem Irakkrieg teilzunehmen? "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." - Dies ungefähr war auch die Formel, mit der athenische Diplomaten ihre Kriegsdrohung zu überbringen pflegten.

"Wer klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt - und damit auch des Künftigen, das wieder einmal durch die menschliche Natur, so oder ähnlich, eintreten wird -, der wird mein Werk für nützlich halten." Schrieb Thukydides im 5. Jahrhundert v.u.Ztr.

In einem berühmten Kapitel "Pathologie" analysiert Thukydides die situationsimmanente moralische Zerrüttung der damaligen Gesellschaften. Die Freund-Feind-Logik der Außenpolitik, im ständigen Kriegszustand erlernt, hatte auch das soziale Stadtgefüge - heutig gesagt: die Zivilgesellschaft - zerstört. Alles Soziale hatte sich militarisiert. Wer ein Wort der politischen Vernunft wagte, galt sogleich als heimlicher Sympathisant des Feindes.
Diese Logik ist uns spätestens seit dem 11. September wieder vertraut.
Wer seit dieser Zeit versucht, ausdenkbare Motive der Terroristen zu erörtern, gerät sofort unter Verdacht, sie entschuldigen zu wollen. Als Freund Amerikas gilt nur, wer kräftig mit draufhauen will; und namentlich von den Europäern wird dies erwartet: aus Dankbarkeit für die Befreiung von Hitler.

Das eigentliche Kernmoment dieses Werks, der die Denkungsart dieser Kriegsgesellschaften in all ihrer Verachtung für Sitte und Werte zeigt, ist der berühmte "Melierdialog", eine Diskussion zwischen dem Rat der neutralen Insel Melos und dem Militärgesandten Athens, der die Invasion dieser Insel vorbereitet. Die Melier berufen sich auf alte Verträge und geheiligte gesamthellenische Rechte, die Athener erklären hingegen, dass Recht ja wohl nur zwischen gleich Starken gelten könne, während die Melier in ihrer Schwäche sich nur lächerlich machten, wenn sie erhofften, dass eine Großmacht sich unter das allgemeine Recht beugen würde.
Auch hierzu ist eine heutige Parallele aufdrängend: Warum, fragen sich Pragmatiker, soll die Weltmacht USA ein Stück Souveränität aufgeben, nur weil es unendlich viel schwächere Staaten so wünschen? Die Weigerung der US-Bundesregierung, sich in multilaterale Verträge einbinden zu lassen, sei es das Kyoto-Protokoll, die Ächtung von Landminen, - oder sei es die Ausnahmeregelung für US-Soldaten vor dem internationalen Gerichtshof gegen Kriegsverbrechen -, all dies scheint sogar Menschen, die eher dem differenzierten Denken zugeneigt sind, nahezu vernünftig.
Dieser "Melierdialog", der in einer vulgärdarwinistischen Akklamation an das Naturgesetz der Stärke gipfelt, ist der eisige Kern des Thukydideischen Werkes, ist aber auch insgeheim eine Preisung des menschlichen Denkapparates. Eine überraschend sinnliche Begegnung. Er erinnert in seiner hochintelligenten Bösartigkeit an die "Gefährlichen Liebschaften" des Choderlos de Laclos.

Faszinierend sind auch die zeitlos-depressiven Einsichten in die Menschennatur. Man bekommt nicht nur Einblick in die Nervosität, Rachsucht, Heimtücke der alten Griechen, man bekommt auch einen Einblick in die politische Dynamik der Macht selbst, die sich unabhängig von Lauterkeit oder Bosheit der Beteiligten entfaltet. All die berühmten Staatsmänner Athens haben nicht ersehen, dass ihre aggressive Konkurrenzpolitik gegen Sparta einen 27-jährigen Bürgerkrieg aller Hellenen provozieren wird, in dem Stadt gegen Stadt, Volk gegen Adel, Adel gegen Demokratie, Sklaven gegen Herren rasen werden. Mit unablässigem Verrat, Wechsel der Bündnisse, Umsturz der Verfassungen - bis zur völligen Erschöpfung aller Ressourcen.

Und wie Jugoslawien, Afghanistan und der Irak durch die Einwirkung moderner panzerbrechender Waffen für Jahrtausende verstrahlte Gebiete aufweisen werden, wie die Bevölkerung Vietnams noch extrem lange Zeit unter der Auswirkung von versprühtem Pflanzengift zu leiden haben wird, so reichen die Umweltschäden dieses antiken Krieges bis in unsere Zeit: die Verkarstung der Küsten und des Hinterlandes im gesamten Mittelmeerraum. Entstanden durch brutale Schlägerung aller erreichbarer Wälder wegen des überhöhten Bedarfs an Kriegs- und Truppentransportschiffen.

Unberücksichtigt werden die seelischen Schäden bleiben, die über mehrere Generationen hinweg die Menschen mutlos und inaktiv machten, sie letztendlich zur leichten Beute des mazedonischen Herrschers, und bald darauf zu Hilfstruppen in den imperialen Kriegszügen Alexanders werden ließen.
An diesen Gedankenkomplex führen die wenigen letzten Sätze des Projekttextes.