Nach dem üblichen Prinzip sterben in der
Tragödie vorwiegend Männer durch Männer. In diesem
Stück sind es Frauen, die -in einem "Modell des Schreckens"-
einander Gewalt antun.
Wie aus großer Distanz betrachtet zeichnen sich keine
Charaktere ab, sondern Konstellationen.
Getötet, oder schwer gedemütigt, oder beides, werden:
Tochter von Mutter, Freundin von Freundin, Lehrmädchen
von Chefin und umgekehrt, Ehefrau von Nebenbuhlerin und umgekehrt,
Lesbe von Lesbe, kleine Verkäuferin von Künstlerin,
Dienerin von Herrin und umgekehrt, Frau von einem Gott, Enkelin
von Großmutter und umgekehrt.
Mit faszinierend enggeführter Sprache,
Ritualen ähnlich, eröffnen die Szenen sich in Momenten,
in denen der Druck auf die Figuren schon zu stark ist.
Die Situationen vermitteln die Tragik, die sie
in den Alltag bringen, sehr heftig. Nur nimmt man sie dort -
sofern man nicht selbst betroffen ist - in dieser Wucht selten
wirklich wahr.
Ritualen ähnlich, eröffnen die Szenen sich in Momenten,
in denen der Druck auf die Figuren schon unerträglich hoch
ist.
Die Szenen selbst sind authentisch wirkende
Dialoge, die durch Auslassung üblicher Füllwörter
enggeführt werden und solcherart verdichtet, als beschleunigte
Lebenssituationen wirken.
Diese Verdichtung der Szenen überrascht -und irritiert
aber auch, weil man dadurch das Gefühl hat, dies alles
schon einmal so gesehen oder gehört zu haben, zumindest
im Kino. Es ergeben sich aufregende deja-vus, manchmal sogar
(grimmig) komisch.
Den Spiel-Szenen sind jeweils klaustrophobische
Chor-Suaden aus einer anderen Ebene vorangestellt. Durch diese
zwischengeschalteten chorischen Stellen dürfte sich ein
Verdacht zusehends erhärten: Dies alles spielt sich vielleicht
in einem einzigen menschlichen Nervensystem ab, und ist nur
durch Hirnspaltung sicht- und erlebbar gemacht.
Seine Musikalität, die chorischen Einlagen,
die Unmöglichkeit dem Schicksal (das heißt hier:
der eigenen gewalttätigen Natur) zu entkommen, all das
erinnert an die antike Tragödie, die energische Sprache
der Handlungen ans Ritual. Doch werden im grellen Licht dieses
Stückes ganz alltägliche Beziehungsstrukturen seziert,
bis ihr mörderischer Grund freiliegt. Der gegenseitige
Mord erscheint hier als die einzige Möglichkeit, endlich
zusammen zu kommen.
Die beiden Figuren und auch ihr Verhältnis
zueinander sind dabei ständigen Verwandlungen unterworfen,
und sich selbst definieren die zwei Frauen vor allem durch den
Kampf gegeneinander. Es ist eine nicht endenwollende Suche nach
der eigenen Persönlichkeit, die nur zu finden scheint,
wer sich gegen den anderen abgrenzt, ihn verletzt.
Positionen von Macht und Hingabe, Innigkeit und Zugriff, Verweigerung
und Benutzen, Abhängigkeit und Vertrauen sind die Pole,
die die beiden Frauen umkreisen; jeweils so lange, bis eine
der beiden stirbt.
Vertraut erscheinende Szenen des Lebens, die tödlich enden,
innerlich, und nach denen man dennoch weiterlebt, irgendwie.
Es ist eine starke Intensität des Erlebens,
wenn auch, so scheint es, im Negativen - doch gerade dort geraten
den beiden Frauen die lebendigsten, lustvollsten und auch komischsten
Begegnungen, als sei das scheinbare Unglück letztendlich
doch der Ort, an dem wir uns einrichten um glücklich zu
sein für Momente.
Der Text soll, nach Meinung der Autorin, keinesfalls
als "Frauenstück" missverstanden werden.
"Es geht darum zu untersuchen, wie Menschen eigentlich
sich in Positionen von Macht und Ohnmacht verhalten, wie sie
miteinander handeln. Aufgrund der Konvention glaubt man Situationen
beschrieben, wie sie für Frauen typisch sind. Sicher aber
sind ähnliche Haltungen des Gebens, Nehmens, der Verweigerung,
des Benutzens auch bei Männern zu finden. Grundlegend für
die Verhaltensweisen sind soziale Konstellationen ? wie Konkurrenz,
Abhängigkeit, Vertrauen."
Ein faszinierendes Element im Textaufbau dürfte
dem Umstand zuzuschreiben sein, daß die Autorin hauptberuflich
mit der Oper befasst ist. Mit klaren und strengen Formen, mit
Rhythmus und Tempowechseln schreibt sie ihre Welt in die Figuren
und Situationen ein. Auf der Grundlage einer überhöhten
Realität entsteht, trotz betont lapidarer, privatistischer
Haltung der Figuren, eine hochgezogene Tragödienform. Rituale
der Vernichtung.
"Mir ging es darum, den Anspruch,
man könne nur von ausschließlich einem Standpunkt
aus Recht haben, zu relativieren. Es ist doch ein uraltes
Prinzip in der Tragödie, dass beide Parteien recht
haben. Der Kampf, den die beiden Figuren in diesem Stück
gegeneinander führen, schlägt meist wieder auf
sie selbst zurück.
Ich glaube dass jeder Mensch gleichzeitig viele ist, immer
wieder ein anderer, je nachdem, zu wem er sich verhält.
Ich habe versucht, das auseinanderzulegen. Mir selbst ist
es häufig so gegangen, dass ich mit meiner Überzeugung
auf einer bestimmten Seite gestanden bin, aber schon kurze
Zeit später auf einer anderen, vielleicht sogar entgegengesetzten.
Man benötigt ja vielleicht Überzeugungen um existieren
zu können, die aber verändern sich. Und es kann
vorkommen, dass man in anderen Leuten plötzlich sich
selbst wiederbegegnet -und sie womöglich hasst, weil
sie eine Position vertreten, die man kürzlich überwunden
hatte." |
Jenny Erpenbeck
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AUTORIN
Jenny Erpenbeck, Autorin und freie Opernregisseurin,
stammt aus einer (ost)deutschen Schriftstellerfamilie; geb.
1967 in Berlin, lebt in Graz.
Buchbinderlehre, dann Regiestudium an der Hochschule
für Musik "Hanns Eisler" Berlin; Assistenzen
bei Ruth Berghaus, Heiner Müller, Peter Konwitschny, Werner
Herzog.
Literarische Arbeiten:
"Herr Kennedy muss ein sehr böser
Mann gewesen sein (Opernlibretto),
Aufsehen erregt hat Jenny Erpenbeck letztes
Jahr mit ihrem Debutroman "Geschichte vom alten Kind":
Darin wird ein weibliches Wesen beschrieben, das hinter
seinem unförmigen Körper zu verschwinden versucht,
um sich dem Erwachsenwerden zu entziehen.
Früher war nämlich unsere
Natur nicht dieselbe wie jetzt,
sondern andrer Art. Anfangs gab es bei den Menschen drei
Geschlechter. Das dritte Geschlecht ist verschwunden,
sein Name noch übrig. Mannweiblich: - Männlich
und Weiblich zusammengesetzt - jetzt aber ist der Name
ins Schimpfliche gewendet. Damals war die ganze Gestalt
jedes Menschen rund, er hatte vier Hände, und ebenso
viele Beine und zwei Gesichter auf kreisrundem Nacken.
Und zu den zwei gegenübergestellten Gesichtern
nur einen Kopf und vier Ohren und zwei Schamteile und
alles andre, wie man es sich hiernach vorstellen kann.
Er ging auch aufrecht wie wir heute, wohin er wollte.
Wenn er aber schnell laufen wollte, so bewegte er sich,
so wie die Radschlagenden die Beine nach oben herumwerfend
einen Kreis beschreiben, schnell von seinen acht
Gliedmaßen getragen im Kreise davon. Die Zahl und
Beschaffenheit dieser drei Geschlechter kam daher, dass
das Männliche ursprünglich von der Sonne
stammte, das Weibliche von der Erde, das Gemischte vom
Monde, weil ja der Mond an beiden teilhat. Sie waren gewaltig
an Kraft und Stärke und waren großen Sinnes,
ja, sie unternahmen es, den Himmel zu ersteigen, um die
Götter anzugreifen.
Da ratschlagten Zeus und die andern
Götter, was sie tun sollten, und waren in Verlegenheit.
Denn es war ihnen nicht möglich, sie wie die Giganten
mit dem Donner zu erschlagen und ihr Geschlecht zu vertilgen
denn dann wären ihnen ja auch die Opfergaben
der Menschen vertilgt worden - aber sie konnten auch nicht
den Frevel hingehn lassen. Endlich hatte Zeus etwas
ersonnen, und er sagte: Ich glaube ein Mittel zu haben,
wie die Menschen bleiben und doch von ihrem Übermut
ablassen, indem sie schwächer werden. Jetzt durchschneide
ich sie nämlich, jeden in zwei Teile, und so wie
sie schwächer werden, werden sie uns auch nützlicher
sein, weil sie ja an Zahl mehr geworden sind, und also
insgesamt mehr Opfer bringen werden. Wenn sie sich aber
weiter erfrechen und nicht Ruhe halten, werde ich sie,
sprach er, noch einmal entzwei-schneiden, so dass sie
sich auf einem Bein fortbewegen wie beim Sackhüpfen.
Dies gesagt, zerschnitt er die Menschen in zwei Hälften,
wie man Birnen zerschneidet, um sie einzumachen.
Und immer wenn er einen zerschnitten hatte, hieß
er Apollo, diesem das Gesicht und den halben Hals nach
der Schnittfläche herumzudrehen, damit der Mensch,
seine Zerschneidung betrachtend, bescheidener werde.
Jener drehte also das Gesicht herum, zog von allen Seiten
die Haut über das, was jetzt Bauch heißt, zusammen
und band es mitten auf dem Bauche ab, was man jetzt Nabel
nennt.
Nachdem nun so die menschliche Natur
entzweigeschnitten war, ging jede Hälfte sehnsüchtig
ihrer andern Hälfte nach, und indem sie sich mit
den Armen umschlangen und sich zusammenflochten voll Begierde
zusammenzuwachsen, starben sie aus Hunger und gänzlicher
Untätigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander
tun wollten. Und so gingen sie zugrunde. Da erbarmte
sich Zeus und erfand eine andere Hilfe: er versetzte ihre
Schamteile nach vorn. Denn bisher trugen sie diese außen,
und sie zeugten in die Erde wie die Zikaden. So versetzte
er sie nun nach vorn und machte, dass sie ineinander zeugten,
damit in der Umarmung ein Mann, wenn er mit einem Weibe
zusammenkommt, zeugt und Nachkommenschaft entsteht; wenn
aber Männliches mit Männlichem, ihnen wenigstens
Sättigung würde aus der Vereinigung und sie
sich beruhigten und zum Werke wendeten und auf das himmlische
Leben bedacht seien.
So lange schon ist die Liebe zueinander
den Menschen eingepflanzt, strebend aus zweien Eins
zu machen.
Daher ist jeder von uns das Gegenstück
zu einem Menschen, weil wir aus einem in zweie geschnitten
wurden. Ewig sucht jeder sein Gegenstück. Alle
Männer, welche ein Stück von dem gemischten
Geschlecht sind, das damals mannweiblich hieß, lieben
das Weib. Die Ehebrecher entstammen diesem Geschlecht,
und die Frauen, die den Mann lieben und ehebrecherisch
sind, entstammen auch diesem Geschlecht. Und alle
Frauen, die Stücke eines Weibes sind, richten den
Sinn nicht sehr auf die Männer, sondern halten
sich mehr an die Frauen. Alle, die Stücke des männlichen
sind, folgen dem Männlichen, und als Knaben lieben
sie die Männer und sind froh, wenn sie bei den Männern
liegen und sie umarmen. Und diese sind die besten unter
den Knaben und Jünglingen, weil sie von Natur die
mannhaftesten sind. Manche sagen, sie seien schamlos,
aber das ist Lüge, denn sie tun nicht aus Schamlosigkeit
so, sondern aus Mut und Mannheit und Männlichkeit:
das ihnen Ähnliche haben sie gern. Das ist sicher
bewiesen: Denn diese allein landen, wenn sie zu Männern
gereift sind, im Staatsleben. Nachdem sie erwachsen sind,
lieben sie Knaben, und auf Ehe und Kinderzeugung lenken
sie nicht von Natur den Sinn, sondern sie werden durch
das Gesetz genötigt. Sie selbst wären zufrieden,
miteinander ehelos zu leben. Immerdar muss ein solcher
Knaben und Freunde lieben, weil er immer das Verwandte
gern hat.
Wenn nun einer oder eine auf seine
oder ihre eigene Hälfte selbst trifft, dann werden
sie wunderbar erschüttert von Freundschaft und Vertrautheit
und Liebe und wollen voneinander nicht lassen, auch nicht
einen Augenblick. Diese sind es auch, die gemeinsam das
ganze Leben zubringen und nicht einmal zu sagen wüssten,
was sie voneinander haben wollen. Denn es kann doch wohl
nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses sein, deretwegen
der eine dem andern sich so froh und mit so großem
Eifer vereint, sondern etwas andres will offenbar die
Seele der beiden, was sie aber nicht sagen kann. aber
in Zeichen und in Rätseln verkündet sie uns
ihr Wollen.
Schuld daran
ist, dass wir ursprünglich ganz waren. Früher
waren wir eben ein Wesen.
Und diese Begierde und die Jagd
nach der verlorenen Ganzheit trägt den Namen Eros.
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Rede des Aristophanes
aus Platons Symposion
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